Risiken und Nebenwirkungen des Um-die-Ecke-Denkens
Artikel vom 1.8.2012
Wieder einen alten Freund nicht erkannt, die Kinder verwechselt, den falschen geküsst? Schnell fürchtet man den Verlust der geistigen Fähigkeiten und fragt sich: Ist es das Alter, waren es die paar Gläschen zu viel, leide ich unter Demenz oder gar Alzheimer? Möglicherweise - aber vielleicht wurde zuvor auch nur ein kryptisches Kreuzworträtsel wie unser Querdenkerlein gelöst.Die Gesichtswahrnehmung ist für das soziale Wesen Mensch von größter Bedeutung und dementsprechend brennend interessiert sich auch die Wissenschaft dafür. Der Psychologe Michael Lewis von der britischen Cardiff University beschäftigt sich etwa damit, wie wir Gesichter erkennen und unterscheiden können und wie wir auf sie reagieren. Er nähert sich dem Thema immer wieder auf erstaunlich kreative Weise. So hat er untersucht, wie wir einzelne Gesichter in heillosem Durcheinander entdecken oder warum "Mischlinge" so attraktiv sind; er hat herausgefunden, dass Botox-Benutzer besser gelaunt sind - übrigens, nicht wegen ihrer Faltenlosigkeit, sondern weil sie nicht mehr finster dreinschauen können - und dass Buchstaben den Geschmack von Wein beeinflussen können.
Der Geschichte mit dem Wein wollen wir etwas nachgehen. In den 1970er-Jahren zeigte David Navon seinen Versuchspersonen Bilder mit vielen kleinen Buchstaben, die zusammen einen anderen, großen Buchstaben darstellten; derartige Abbildungen werden heute Navon-Figuren genannt.
Eine typische Navon-Figur. Was wird zuerst wahrgenommen, die vielen S oder das große V?
Die Frage war nun: nehmen die Versuchspersonen schneller die vielen kleinen Buchstaben zur Kenntnis oder den einen großen? Das Ergebnis war recht eindeutig. Die meisten Versuchspersonen nahmen die großen Buchstaben schneller wahr; die globalen Merkmale dominierten also über die lokalen. Später fand man heraus, dass dies nicht auf alle Menschen gleich zutrifft und dass es auch große kulturelle Unterschiede dabei gibt. So reagierten z.B. Vertreter der Himba, einen Volk in Grenzgebiet von Angola und Namibia, schneller auf die lokalen Merkmale als auf die globalen.
Damit war es noch nicht getan, Navon-Figuren bargen noch Potential für weitere Untersuchungen. Wieder zeigte man Versuchspersonen die Figuren, wies sie nun aber an, sich voll auf die kleinen Buchstaben zu konzentrieren. Danach stellte man ihnen Aufgaben, die vor allem globale Wahrnehmung erfordern. Es zeigte sich, dass sie nun deutlich langsamer reagierten als die Kontrollgruppe, die zuvor nicht auf das Kleingedruckte achten musste. Dieser Effekt trat nicht nur bei Buchstabenbildern auf, die vorhergehende Konzentration auf Details wirkte sich auch negativ auf das Erkennen von Gesichtern aus und schlimmer noch: der Wein schmeckte plötzlich anders.
Wie schlechter Wein ist auch die Verlässlichkeit von Augenzeugen ein heikles Thema. Lewis zeigte sich auch darüber besorgt und untersuchte, wie man Augenzeugen, die auf eine Gegenüberstellung warten müssen, sinnvoll beschäftigt ohne ihre Wahrnehmungsfähigkeit zu beeinträchtigen. Wie wir bereits wissen, wäre das Anstarren kleiner Buchstaben in Navon-Figuren kontraproduktiv, was die Gesichtserkennung angeht. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sich Zeugen damit die Zeit vertrieben, ist gering. Doch welche Gefahren gehen von beliebteren Beschäftigungen aus? Was ist mit Lesen, dem Lösen von Sudokus, einfachen Kreuzworträtseln oder von um-die-Ecke-gedachten? Lewis hat es untersucht und fand Erstaunliches: Das Lösen eines kryptischen, um-die-Ecke-gedachten Kreuzworträtsels beeinträchtigte die Gesichtswahrnehmung signifikant, während Lesen oder Lösen normaler Kreuzworträtsel und Sudokus keinen Einfluss zeigten. Lewis empfiehlt in dieser Studie tatsächlich, dass Zeugen vor einer Gegenüberstellung keine kryptischen Rätsel lösen sollten.
Über weitere Fehlleistungen, die auf das Lösen von Rätseln zurückzuführen sind, lässt sich Lewis nicht aus. So möchten wir ergänzen: Wenn jemand das nächste Mal den Nachbarn küsst, gebt ruhig unseren Querdenkerlein die Schuld und zeigt eurem Partner diesen Artikel! Anschließend macht gemeinsam eine Flasche Wein auf und probiert so lange davon, bis ihr keinen Buchstaben mehr wahrnehmen könnt, der den Geschmack verderben könnte.
Quellen:
- Lewis, M.B., Seeley, J. & Miles, C. (2009). Processing Navon letters can make wine taste different. Perception, 38, 1341-1346.
- Lewis, M.B. (2006). Last but not least: Eye-witnesses should not do cryptic crosswords prior to identity parades. Perception, 35, 1433-1436.
- Global precedence (Wikipedia, engl.)